Ein Leben für die Krankheit
Frau M. ist eine „ATW-Patientin“. Diese Insider-Abkürzung steht für „alles tut weh“ und steht natürlich nicht in ihrer Krankenakte.
In der Akte hingegen findet sich eine beeindruckend lange Diagnoseniste: – und auffällig ist, dass da verdächtig oft Begriffe wie „unklare“, „idiopathische“, „kryptogene“ oder „funktionelle“ Beschwerden auftauchen.
Auf gutdeutsch: Man will der guten Dame zwar nicht Unrecht tun, aber man hat bislang nicht herausfinden können, was ihr fehlt, obwohl man sich alle Mühe gegeben hat und ihr alle Untersuchungsmethoden hat angedeihen lassen, die man sich denken kann. Das kann entweder daran liegen, dass alle Ärzte der Welt zu blöd sind um ihr Leiden zu erkennen oder daran, dass sie vielleicht wirklich nichts hat. Aber man will ihr ja schließlich nicht unrecht tun.
Im Schnitt so einmal im Monat taucht sie bei uns auf.
Von jedem Untersuchungsbefund und jedem Entlassungsbrief läßt sie sich eine Kopie geben. Die heftet sie dann ab – jede Seite einzeln in eine Klarsichtfolie verpackt, und dann nach verschiedenen Rubriken gegliedert und sortiert mit verschiedenfarbigen Reitern. Frau K. ist ein ordentlicher Mensch. Früher einmal war sie schließlich beim Ordnungsamt, bis sie dann mit zweiundvierzig Jahren in Frühpension gegangen ist. Wegen Rücken. Rücken ist immer gut.
Jedenfalls taucht sie regelmässig mindestens einmal im Monat bei uns auf, mit ihren Aktenordnern, und dann strahlt sie und begrüßt jeden von uns mit Handschlag. Man kennt sich schließlich.
„Wie gehts Ihnen, Frau M.?“ frage ich.
Sie strahlt auch mich an.
„Schlecht!“ strahlt sie, „Einfach nur schrecklich, Herr Doktor! Diese Rückenschmerzen wieder… was kann das nur sein?“
Es gibt Menschen, die leben für ihre Krankheit.
Würden sie – manchmal glauben wir ja noch an plötzlich unverhofft erscheinende Gute Feen und so – würde sie also plötzlich von all ihren Übeln erlöst und von heute auf morgen völlig schmerzfrei und kerngesund: Ihr würde etwas fehlen.
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Written by medizynicus
20. Juli 2009 um 12:47
Veröffentlicht in Alltagswahnsinn
Tagged with alles tut weh, Arzt, ATW-Patient, Gesundheit, Krankenhaus, Patient, Patientin
8 Antworten
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Turf to Psychosomatik? 😉
Michael
20. Juli 2009 at 15:02
Naja, man muß ja schließlich dafür sorgen das dass mit der Frühberentung auch so blibt, und nicht irgendwann ein Sachbearbeiter auf die Idee kommt sie könne ja doch wieder arbeiten weil ihr Rücken besser geworden ist.
Denis
20. Juli 2009 at 15:41
Wie in dem Lied von Annett Louisan: „…geh mir weg mit deiner Lösung, sie wär der Tod für mein Problem!“.
Ich bemerke es auch oft und öfter, dass sich Menschen in der zunehmend insozialen Gesellschaft nach einer – und eben jener – Zuwendung sehnen. Dass man am liebsten etwas hätte, was einen eben in die Hände des Mitgefühls, der Betreuung, einer Art Liebe sendet..
Gebt ihr dann auch manchmal mit ernstem Blick ein bisschen Kochsalzlösung intravenös?
Kristina
20. Juli 2009 at 15:47
*seufz* Ich kann ja verstehen, dass es nervt, wenn man Leute nicht gesund machen kann (oder den Eindruck hat, dass die das gar nicht wollen).
Die Kehrseite der Medaille ist aber, dass wegen „is ja eh psychosomatisch“ auch manchmal Untersuchungen *nicht* gemacht werden. Mein Vater z.B. ist einer solchen „Psychosomatik“ erlegen – die dann dummerweise doch ne Thrombose war.
Wenn mit der Begründung „wenn wir nur eine retten, isses das wert“ zigtausend Frauen zum Brustkrebs-Screening geschickt werden – sollte man dann nicht denselben Grundsatz auf Hypochonder und Psychosomatiker anwenden (frei nach dem Motto „auch ein Psychosomatiker kann mal wirklich krank sein“)?
Benedicta
20. Juli 2009 at 16:26
sorry nicht zum Artikel, aber…. Das Quiz hier hat nun einen 2. Teil, wer also nochmal möchte:
http://medctr.de/index.php?page=quiz
tine
20. Juli 2009 at 16:41
Herr Medizynicus, ich schleich mich mal in ihren blog, wir haben ja ferien und is mir langweilig. Hu, hoffenlich krieg ich nich ma grippalen infarkt und ende in ihrer traum(a)klinik……und sie lästern dann voll ab über mich, wenn ich fix und foxi vorm OP herumliege……
Frl.Krise
20. Juli 2009 at 17:01
Moin Frl. Krise,
…aha, da müssen wir bei der Frau Pädagogin doch erstmal n büschen Deutsch ausbügeln:
1.) grippaler – INFARKT? Gippsnich. Höchstens Grippalen INFEKT
2.) INFARKT gips natürlich auch, und das wär dann schon ein Notfall…
3.) Ob Infarkt oder Infekt, mit OP hat das alles nichts zu tun, Du landest schön bei uns auf der Inneren, und gelästert wird selbstverständlich immer, vor allem über Lehrer!
….Nö, stimmt gar nicht. Eigentlich sind wir hier in Bad Dingenskirchen alles ganz nette Zeitgenossen. Herzlich willkommen jedenfalls!
medizynicus
20. Juli 2009 at 17:40
Köstlich, der Beitrag heute. 🙂 It made my day.
molly
20. Juli 2009 at 22:31