Medizynicus Arzt Blog

Krankenhausalltag in der Provinz: Medizin und Satire, Ethik und Gesundheitspolitik

Seelsorger oder Parkuhr?

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„Danke, dass Sie mir zugehört haben!“ seufzt Frau Eschenbaum und lächelt selig.
Okay. Unten in der Aufnahme warten schon zwei Zugänge. Und mit der Visite bin ich gerade mal zur Hälfte durch. Und dann muß ich noch einen Stapel Entlaßbriefe fertig machen, die eine oder andere Sonographie, und, und, und… Schwester Gaby hat schon vor einer Viertelstunde unter Protest das Zimmer verlassen unter dem schnöden Vorwand, dass es anderswo geklingelt hätte. Okay.
Und ich weiß jetzt alles über Frau Eschenbaum. Über ihren nach siebenundfünfzig Ehejahren so plötzlich verstorbenen Mann, ihre drei Katzen und deren Krankheiten, die Kinder und Kindeskinder (auch die der Katzen) und überhaupt alles.
Mit gewinnendem Lächeln auf den Lippen drücke ich ihre Hand.
„Wird schon wieder!“
„Noch einmal danke, dass Sie mir zugehört haben…“
„Ist ja schließlich mein Job!“
„Ja, früher gab’s noch den Herrn Pfarrer und den Kaplan, aber…“
„Aber?“
Frau Eschenbaum macht eine wegwerfende Handbewegung.
„Der wurde uns wegrationalisiert.“
Ich falte die Patientenakte zusammen und verlasse endlich das Zimmer.
Draußen auf dem Flur schaut Schwester Gaby mich mit strafendem Blick an.
„’ne Parkuhr wäre billiger gewesen!“ zischt sie mir zu.

Written by medizynicus

26. Juli 2010 um 09:27

Veröffentlicht in Alltagswahnsinn

12 Antworten

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  1. Brav, wieder eine mittelgroße Sünde abgearbeitet!

    der Landarsch

    26. Juli 2010 at 12:09

  2. … auch wenn es anstrengend war, nett das Du ihr zugehört hast.

    Lebensumbau

    26. Juli 2010 at 13:22

  3. Hmm. Interessante These, der Arzt als Ersatz für den Pfarrer. Mit Sicherheit nicht ganz unwahr – denn einerseits gibt es immer weniger Seelsorger, andererseits haben immer weniger Leute auch einen Bezug zu diesen.
    Dazu kommt dann noch, dass sich die verbleibenden Pfarrer auch nicht (mehr so sehr) als ständige Ansprechpartner sehen: als Organistin kenne ich ja nun wirklich viele Pfarrer (katholische und evangelische, sowie diverse Pastoralassistenten etc.), und die, zu denen man in einer Notsituation kommen könnte, kann ich an einer Hand abzählen.
    (Mit dem Pfarrer meiner Heimatgemeinde habe ich mich deshalb überworfen – er hat es fertiggebracht, einerseits *für sich* zu sagen „Pfarrer ist auch nur ein Beruf“, andererseits aber *von mir* zu verlangen, mein nebenamtliches Orgelspiel als Berufung zu sehen. Und er versteht bis heute nicht, was mich an dieser Diskrepanz stört.)

    Benedicta

    26. Juli 2010 at 14:29

  4. Ein Großteil der Klinik(!)ärzte denen ich begegnet bin sind leider menschlich und fachlich unterqualifiziert für den Job eines Seelsorgers :L

    neklaf

    26. Juli 2010 at 16:09

  5. Ich finde den Spruch mit der Parkuhr unmöglich. Es ist bedauerlich, das manche alten Leute nur noch den Arzt o.ä. haben um mal ein bischen zu reden.
    Ich liebe es an der Supermarktkasse oder so mit den älteren Leute etwas zu quatschen, das gibt mir ein gutes Gefühl und den Leuten sicher auch.

    shortend

    26. Juli 2010 at 18:18

  6. Die Krankenschwester muß noch lernen – trotz ihres englischen Namens – daß ein Arzt eben mehr ist als ein Medicus, ein Organklempner… oder eine Parkuhr.
    Sie wäre einstweilen besser in der Pathologie aufgehoben; die Patienten dort haben nichts mehr auf dem Herzen.

    Wolfram

    26. Juli 2010 at 22:57

  7. „Die Krankenschwester muß noch lernen – trotz ihres englischen Namens – daß ein Arzt eben mehr ist als ein Medicus, ein Organklempner… oder eine Parkuhr.
    Sie wäre einstweilen besser in der Pathologie aufgehoben; die Patienten dort haben nichts mehr auf dem Herzen.“

    Ich würde es ihr nicht persönlich nehmen wollen – Wenig Personal und viel Arbeit führen zu einer hohen Belastung; somit kann man es sich gar nicht mehr erlauben sich diese Zeit zu nehmen.

    Phil

    27. Juli 2010 at 12:41

  8. Medizynicus, ich kann diese Situation bestens nachempfinden. Bei mir kommt dann allerdings immer ein Gefühl ganz langsam hoch, dass ich zurückdrängen muss wie lautes Verkehrsgeräusch von der Straße, wenn ein Patient zu leise spricht: Es ist der anschwellende Druck der Pflichten die ebenso meine Aufmerksamkeit benötigen. Was für Sie der Sonoraum und die Aktenberge waren, das sind für mich die Patienten im Wartezimmer. Nur ich fühle ihr Hufescharren, die genervte Mutter mit dem febrilen Kind auf dem Arm, der schon letztes Mal verschobene Patient usw. Ich will der Patientin sogar gerne zuhören. Manche der Geschichten sind unverwechselbar und tief anrührend. Aber ich habe nicht etwa private Interessen die ich hintanstellen muss. Es sind die dringlichen (noch unbekannten) Nöte der anderen Patienten in der Warteschlange, von denen JEDER die gleiche Verspätung aushalten muss wie der „Nächste bitte“. Es ist eben nicht die hartherzige 6-Minuten Medizin der desinteressierten oberflächlichen Ärzte. Es ist die Überfrachtung von unseren Landarztpraxen mit der zu hohen Patientenzahl. Das ist die Geburtsstunde der Unfreundlichkeiten. Wegen des Parkuhrkommentars: “ Do send Gaby to the Morgue!“

    Kreativarzt

    27. Juli 2010 at 23:20

  9. Nun ja, Theologie als Zweitstudium würde sich doch noch prima für dich anbieten: Dann hättest du auch mehr Zeit für deine ‚Gemeinde‘ und nettere Gemeindeschwestern, die keine Parkuhrkommentare ablassen und weniger Publikum im Allgemeinen(Kirchen sind ja recht leer) Könntest gegen MC Donalds von der Kanzel predigen..–Viel mehr Gestaltungsmöglichkeit als im schnöden Kliniksbetrieb…(Okay, die jungfräuliche Geburt und so und Jonas im Waal ist ein bißerl unlogisch, aber wohl zu vertreten)

    Aber gut, wenn man als Arzt neben Halbgottretter in weiß auch noch zusätzlich Pfarrer sein kann, dann hat man ja die ultimative Machtposition: ist schon eine interessante Sache: Der Arzt als Seelsorger…Aber vermutlich kaum die Regel bei der Zeit, die man pro Patient so hat…
    Ich persönlich frage mich allerdings auch warum Menschen einem Arzt gleich ihr ganzes Leben erzählen..Woher kommt das Vertrauen? Also ich pers. habe überhaupt nicht das Bedürfnis, wenn ich einer wildfremden Person gegenüber sitze ihm/ihr mein Leben auszubreiten…Ich bin schon froh, wenn ich es schaffe auf der rein symptomatischen Ebene genug rauszubringen..
    Aber es gibt sicherlich da ganz verschiedene Patiententypen…Ärzte mit denen ich klar komme, erzählen mir eher IHR Leben…und das finde ich dann ganz okay, dann hat man ne Basis…

    blogwesen

    28. Juli 2010 at 08:43

  10. Blogwesen: Cool Cat, man merkt ja gleich wie viel Du mit Kranken Leuten zu tun hast. Auf Dein schlaues Haupt noch 30 Jahre drauf und Du wirst Dich umsehen wer Dir mehr als seine Gegenübertragung oder den religiösen Schrott der Mixacombo anzubieten hat. Da bleiben nur die Ärzte. Und wenn Du die Projektionsfläche Deines Frusts nicht änderst, dann hast Du nur die Telefonseelsorge oder die Parkuhr zum Bequaken. Wenn Du erst jetzt die Erkenntnis bekommst, dass Ärzte vom Patienten zum Pfarrer gemorpht werden, dann hast Du noch viel vor Dir. Aber zu glauben dass die Weißkittel “Halbgottretter” wären ist ja sowas von Pappendeckelschablone, da wäre ich als Atheist schon in Versuchung ogottogott zu sagen.
    Unter uns: das Vertrauen der Patienten kommt aus Einsamkeit plus hohem Leidensdruck einerseits und der professionellen Fähigkeit vieler (wahrlich nicht aller) Ärzte andererseits.

    Dr.Offenraus

    29. Juli 2010 at 07:44

  11. BLogwesen und Dr. Offenraus haben offenbar vom Wesen der Pfarrer und der KircheN (es gibt nicht nur „Mixacombo“, und selbst die „Combo“ hat Mixa über Bord gehievt… da merkt man ja gleich, Herr Doktor, wann Sie zum letzten Mal einem Pfarrer zugehört haben. Hoffentlich gilt das nicht für Ihr Zuhören allgemein…) keine Ahnung.

    Wenn ich Anti-McDonalds-Predigten halten würde, dann hätte ich schnellstens meine Aufsicht am Hals (Aufsicht: Episcopä), weil ich meinem Auftrag nicht gerecht werde. Denn die Leute wollen nicht McDonalds hören, wo sie eh nicht hingehen, sondern das, was ihr Leben betrifft.

    @Phil: Die Arbeit hatte der Arzt – und die Schwester hat gemeckert. Die, die eigentlich die erste Ansprechpartnerin für den Patienten sein sollte. Merkste was?

    Wolfram

    29. Juli 2010 at 17:44

  12. @Dr.Offenraus
    Also mein Kommentar war zu 90% ironisch gemeint…Medizynikus Blog und Humor gefällt mir sehr gut und ich habe RESPEKT davor, dass er der Frau zugehört hat im hektischen Kliniksbetrieb…Dies ist aber nicht die Regel und als Patient ist man eher eine Nummer…Der Arzt hat max. 3min Zeit und ist immer in Eile, dass reicht dann nicht mal zu einer vernünftigen Anamnese…(und das verhindert u.U. monatelang eine simple Diagnose) Die Halbgottinweiß Allmachtsphantasie ist was viele Patienten in ihrem KOPF haben, aber ist sicher nicht real oder was Ärzte bei allen Zeit- und sonstigen Zwängen selbst von sich denken…

    Und klar, bin ich im Gesundheitswesen (in seinen ganzen internen Abläufen) ein Fremder…Außer eben die Patientenseite, die durfte ich im letzten Jahr dann zur Genüge kennenlernen und meine Erwartungshaltung ist dementsprechend gesunken…Das werfe ich aber oftmals nicht dem Arzt, sondern dem GESUNDHEITSSYSTEM vor…, weil (1) keiner sich mehr zuständig fühlt (2) Keiner vernünftig zuhört und man dann völlig unsinnige Ausschlussdiagnosen durchläuft..Ich sehe die Sache eher von außen -also der gesundheitspolitischen Schiene- etc…und ich finde es eben von dieser Warte aus sehr spannend…

    Und das mit dem Vertrauen: Ja, das war eine ernst gemeinte Frage…Klar, diese war etwas ’stupide‘ und ziemlich naiv…Dennoch ist es eben etwas das mich erstaunt, weil ich finde, dass selbst Ärzten die psychologisch Null Kompetenz und auch Null Interesse haben, viel erzählt wird…Und hier muss dann ein wirklicher auch seelischer Leidensdruck dahinter stehen…, denn sowas fände ich schon masoschistisch…Und in Wartezimmern haben MIR sogar oft Leute auch noch gleich ihr ganzes Leben/Schicksal erzählt..Also ich biete mich momentan eher selbst auch gleich mit als Parkuhr an…In einem Wartezimmer ist man ja auch als Patient wirklich geparkt…Bin also auch durchaus ein soziales Wesen, das Mitleid hat, wenn ich auch nicht unbedingt jeden Tag gerne mit Leid und Krankheit konfrontiert wäre..) Daher: Respekt für die Mediziner…Die aber bessere Rahmenbedingungen bräuchten um ihren Job auch gut machen zu können…

    @Wolfram:
    Die soziale Funktion des Pfarrers/Priesters innerhalb einer Gemeinde ist ja eigentlich eine schöne Sache (außer eben die ganzen absurden Geschichten, wie der jungfräulichen Geburt und co.) Und auch in der Kirche gibt es viele engagierte und gut arbeitende Leute…, die großartiges leisten…
    Nur die Schattenseite der Kirche ist fast ebenso groß und eigentlich ist das was wir eben heute als Glauben vorfinden, doch ein Produkt/Erfindung der Aufklärung..Die Evangelische Rechte in Amerika hat dieselbe Schrift wie die evangelische Kirche in Deutschland, aber eine fast gegenteilige Auslegung…
    Und zur Predigt:
    Da ich in nem Dorf aufgewachsen bin, habe ich schon viele seltsame Predigten gehört…Auch gegen Fernsehkonsum, McDonalds…War nicht mal frei erfunden…Die Aufsicht interessierte das aber wohl herzlich wenig…

    blogwesen

    31. Juli 2010 at 03:37


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