Medizynicus Arzt Blog

Krankenhausalltag in der Provinz: Medizin und Satire, Ethik und Gesundheitspolitik

Rationales Fehlermanagement – Oder: Was haben amerikanische Luftwaffenpiloten mit Ärzten zu tun?

with 8 comments

Gestern habe ich über den Tod eines Patienten nach einer falschen Bluttransfusion berichtet.
Wie konnte es zu diesem tragischen Zwischenfall kommen?
War es die Schuld eines einzelnen Arztes?
Ist dieser Kollege einfach dumm und unfähig und gehört jetzt dringendst abgewatscht und vielleicht sogar aus der ärztlichen Zunft ausgeschlossen?
Oder war er einfach nur übermüdet?
Waren „Die Umstände“ schuld oder „Die Gesellschaft“ oder „Das System“?
Aber fangen wir noch einmal von vorne an:
Ein Patient liegt auf dem OP-Tisch und hat eine Menge Blut verloren. So war es nämlich in Wirklichkeit, meine Nachtdienst-Geschichte war wieder einmal erstunken und erlogen.
Der Patient braucht eine Bluttransfusion. Ein Anästhesist kümmert sich darum – und macht den verhängnisvollen Fehler, dem Patienten mit der Blutgruppe Null eine Konserve der Blutgruppe A anzuhängen. Die Konserve war für einen anderen Patienten bestimmt.
Halten wir fest:
Jeder, wirklich jeder Arzt weiß, dass man bei Transfusionen höllisch aufpassen muss. Ich gehe mal davon aus, dass auch dem betreffenden Kollegen klar war, was er zu tun und zu lassen hatte. Schließlich ist er ja Anästhesist.
Aber er ist nicht nur Arzt, sondern auch Mensch. Und Menschen machen Fehler.
Maschinen, Roboter und Computer übrigens auch. Tatsache ist: niemals, wirklich niemals wird es möglich sein, ein System zu finden, was wirklich hundertprozentig sicher ist. Man kann es so sicher wie möglich machen: neunundneunzig Prozent, von mir aus auch neunundneunzig Komma neun-neun-neun-neun Prozent, aber ein kleines Restrisiko wird bleiben.
Und wenn etwas passiert, dann hat man mehrere Möglichkeiten, damit umzugehen.
Eine Option ist die „Russische Methode“ (danke, Kreativarzt für den wunderbaren Kommentar!): Man suche möglichst schnell einen Schuldigen, urteile ihn schnell und medienwirksam ab und schicke ihn nach Sibirien oder sonstwohin. Dann mache man weiter wie bisher. Der Vorteil ist, dass man sonst nichts zu ändern braucht und vordergründig erstmal alle zufrieden sind (abgesehen von dem armen Sündenbock in Sibirien natürlich). Der Nachteil ist: Der Fehler wird wieder passieren. Denn nur in den den allerseltensten Fällen liegt die Ursache wirklich nur bei einer Person.
Man kann auch versuchen, vorurteilslos und nüchtern an die Sache heranzugehen. Man kann versuchen, herauszufinden, woran es wirklich lag und was man ändern könnte. Man kann versuchen, aus Fehlern zu lernen.
Das Zauberwort heißt Fehlermanagment, Fehlerkonferenz oder auf neudeutsch Critical Incident Reporting (weitere englische Synonyme sind: Significant Event Audit, structured case analysis oder facilitated case discussion).
Dahinter verbirgt sich eine Methode, welche ursprünglich im zweiten Weltkrieg von Luftwaffen-Psychologen entwickelt wurde.
Was nun haben amerikanische Luftwaffenpiloten aus dem zweiten Weltkrieg mit deutschen Ärzten im einundzwanzigsten Jahrhundert zu tun?
Mehr dazu morgen.

Written by medizynicus

31. August 2010 um 05:29

Veröffentlicht in Nachdenkereien

8 Antworten

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  1. Critical Incident Reporting (weitere englische Synonyme sind: Significant Event Audit, structured case analysis oder facilitated case discussion).

    Danke, mein Bingo-Spielschein ist jetzt voll.

    daFux

    31. August 2010 at 09:33

  2. Daran habe ich gestern auch spontan gedacht. Ich arbeite bei einer großen deutschen Airlne 😉 und wir haben ein sehr ausgeklügeltes Fehlermanagement, das darauf ausgerichtet ist, mögliche Fehlerquellen zu indentifizieren und die Wiederholung von Fehlern möglichst zu vermeiden. Wichtiger Bestandteil ist auch, Druck von den handelnden Personen fernzuhalten und ein Klima des Vertrauens zu schaffen.

    Der Human Factor ist auch in unserer Branche der kritische Punkt, aber man kann dafür Sorge tragen, dass die Möglichkeit, Fehler zu machen, minimiert wird und sie, so sie denn doch passieren, sich möglichst nicht wiederholen.

    Da steckt aber sehr viel Aufwand und sehr viel Geld hinter, gesetzliche Regelungen, vorgeschriebene organisatorische Einheiten, Verfahren, Reportingstrukturen, Handbücher, Gremien… Unternehmenskultur. Und weil wir so renommiert sind, werden bei uns noch ein paar Schüppchen mehr gemacht als anderswo 😉

    Was mich aber auf eine Gemeinsamkeit hinführt: sind Menschen mit guter Fachkompetenz, die bzgl. Beförderung einfach „dran“ sind, auch gute Führungskräfte? Das ist in so einem Zus.hang ja auch ein Thema… („Klima des Vertrauens“)

    Nina

    31. August 2010 at 10:53

  3. Das Problem (in der Hektik falsche Konserve angehängt) kenne ich auch, mein Ehegespons (Anästhesistin) erzählt genug Geschichten aus dem OP. Und es ist immer wieder spannend, zu überlegen, wie das Problem bei uns (Automobilbranche) wohl angegangen würde. Poka Yoke (Systeme so auslegen, dass Fehler nicht passieren bzw. sofort auffallen) scheint in der Klinik nur teilweise angekommen zu sein. Ein gutes Positivbeispiel sind die Sauerstoff- und Druckluftkuppungen: eckig passt einfach nicht in rund und umgekehrt.
    Den Vorbemerkungen (Schlüssel des Ganzen ist ein vertrauensvolles Fehlermanagement ohne „russische Methoden“) kann ich nur voll und ganz zustimmen.

    Mal ein Versuch, Poka Yoke auf dieses Problem anzuwenden:
    Vor der OP wird im Raum ein Haken angebracht, der ausschließlich für Konserven verwendet wird. Der Haken ist farbig, je nach Blutgruppe unterschiedlich. 0 positiv ist meinetwegen grün.
    Die Konserven bekommen ebenfalls einen farbigen Streifen, die 0+-Konserve also einen grünen.
    Wenn der Anästhesist nun die falsche Konserve greift, müsste er eine Konserve mit rotem Streifen an einen grünen Haken hängen. Das kann man auch in der Hektik bemerken.

    Klar ist das auch nicht 100%ig fehlerfrei, aber die Wahrscheinlichkeit, dass man hektisch nach der Lyse rennen muss, dürfte dennoch stark sinken.

    Südlurker

    31. August 2010 at 13:06

  4. Medizinprofessoren sind Götter (eigentlich ja nur Halbgötter, aber das wollen sie nicht wahrhaben). Deshalb machen SIE auch KEINE Fehler. Sie sind – wie der Papst (der aber nur in religiösen Belangen) – UNFEHLBAR Wenn, dann kann selbstverständlich nur ein Nicht-Gott Schuld haben. Und den trifft der „göttliche“ Zorn und die Verdammnis.

    Ich hab mal einen solchen Professor seine Fehler selbst machen lassen (er wollte, dass ich das auf seine Anweisung hin tue). Es ging schief und er war mir bis an’s Ende meiner KH-Zeit böse. Na ja, es handelte sich ja auch um die Mutter unserer lokalen Ober-Amtsärztin.

    der Landarsch

    31. August 2010 at 16:50

  5. Unsere verrückte Fehlerkultur sollte eigentlich eines der Kardinalthemen in der Medizin werden.
    Weshalb lassen es sich die Ärzte gefallen bei Fehlern persönlich geschlachtet zu werden, als Kriminelle den Medien zum Fraß vorgeworfen zu werden, wo ihre Motivation doch zum Besten gehört, was man von Menschen erhoffen kann, – sich für Andere einzusetzten.

    In Kollegen Geldgier`s Blog war gerade so eine anrührende Geschichte zu lesen, in der eine ganze Helikopterbesatzung in einer Bergwand ihr Leben verlor. Medizin ist ein Synonym für Humanismus bis hin zum Heldentum im Rettungsdienst. Dennoch wird der Arzt sofort als Verbrecher geteert und gefedert, wenn er einen Fehler macht.

    Ärzte verdienen diese Strafjustiz nicht, weil sie mittels eines regelrecht antikriminellen Vorsatzes mit ihren Mitmenschen umgehen.

    Weshalb regt sich in diesem Berufsstand kein Ärger darüber, ständig mit einem Bein im Knast zu stehen?
    Andere Menschen, die sich einen feuchten Dreck um ihre todkranken Mitmenschen kümmern, werden nicht angeklagt. Ihnen sieht man ihre Inkompetenz und ihr Desinteresse am Nächsten nach. Demjenigen, der schon jahrelang eine gute Tat nach der nächsten begeht wird ein Fehler zum Fegefeuer entfacht.

    Fehler sind keine kriminelle Handlung.
    Das Juristenkonstrukt der “Fahrlässigkeit” versucht durch Umdeklarieren einer gewährten Hilfeleistung zu einer beanspruchbaren Serviceleistung das Edle der Handlung zu einem einklagbaren Handlungsablauf zu degradieren.
    Weil der Übergang der technischen Handlungsabläufe in der Medizin (Operationstechnik) in die des menschlichen Engagements (nochmals abends beim Patienten anrufen ob alles so läuft wie erwartet) nicht trennbar ist, ignoriert sie der Jurist und degradiert den Arzt zum säumigen Ausführungsgehilfen.

    Was in der Luftfahrt Fehlermanagement kostet und was es an interner Kultur voraussetzt hat Nina angedeutet. Wer in dieser Form konstruktiv mit Fehlern umgeht verändert damit intern die Umgangsformen. Jene Aristokratie der Chefärzte, jene Ellbogenmentalität unter den Kollegen.

    Kommunikationsregeln bei der Selbstoffenbarung von Fehlern sind das kleine Einmaleins bei so etwas! In der jetzigen Krankenhauslandschaft ist das Fehlanzeige.

    Es wäre zu überlegen wie schuldig sich das bisher gängige “RÄCHEN” schon an der Vertuschung gemacht hat! Staatsanwälte und Richter sind dadurch mitschuldig an der unzureichenden Fehlerkultur, die immer wieder zur Wiederholung der Fehler geführt hatte. Somit sollte man diese atavistische Schuldkultur selbst an den Pranger stellen.

    Wer wirklich etwas gegen Schäden ( und Todesfälle) in der Medizin tun will, der muss den Staatsanwalt (in der Regel) aussperren,
    der muss Geld in die Hand nehmen um Rahmen für Audits, Video Teaching und Supervision zu schaffen,
    der muss Fehleroffenbarung BELOHNEN anstatt sie zu bestrafen.

    Von all diesen Forderugen sind wir mindestens 2 kg Hirnmasse entfernt.

    Kreativarzt

    31. August 2010 at 22:34

  6. Bravo, @ Kreativarzt! Hab’s immer schon gesagt: An der derzeit miesen Situation der Medizin ist in erster Linie die miese Moral unserer „Lehrer“ Schuld, denen es mehr um ihre Eitelkeiten und Pfründe, als um eine ethische Ausbildung und moralische Führung der nachkommenden Kollegen geht!

    der Landarsch

    1. September 2010 at 11:50

  7. Richtig, Landarsch. Das Problem ist aber ein breit gesellschaftliches. Die Pädagogik und Didaktik ist bereits in den allgemeinbildenden Schulen(nicht in der Theorie sondern in der Praxis) ein Trauerspiel. In den Medizinischen Hochschulen kommt es durch den Mangel der entsprechenden Strukturen dann letztlich zu dieser Unkultur. Die Herren in der universitären Lehre ist das egal. Denn Lehre ist immer nur das lästige uneheliche Kind. Was zählt sind die Veröffentlichungslorbeeren. Und der Leuchtturm der Fakultät. Was für eine Verschwendung!

    Kreativarzt

    6. September 2010 at 15:23

  8. Ich lese jetzt schon seit 3 Tagen diesen Blog, hab von hinten angefangen. Ich habe vieles erfahren, was ich lieber nicht erfahren hätte, aber auch vieles, wo ich meine eigene Haltung überdenken muss, und teilweise auch schon überdacht habe.

    Danke Medizynicus und danke an all die Kommentatoren.

    TickleMeNot

    21. April 2011 at 18:34


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