Medizynicus Arzt Blog

Krankenhausalltag in der Provinz: Medizin und Satire, Ethik und Gesundheitspolitik

Familienbande… oder doch nicht

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Herr Wanzengruber ist mal wieder da: in der letzten Nacht eingewiesen worden nachts vom hausärztlichen Notdienst. Wieder mal. Der Dienst habende Kollege kannte ihn wohl noch nicht. Oder vielleicht auch doch, aber was soll man tun, wenn ein fünfundachtzigjähriger Herr auf dem Boden liegt, vor Schmerzen jammert und sich nicht bewegen kann? Und wenn dieser ältere Herr dann auch noch völlig alleine in diesem Hexenhäuschen wohnt?
„Schickt mich nach Hause!“ bellt Herr Wanzengruber, schlecht gelaunt wie immer und starrt mich mit seinen eisgrauen Augen an.
Ich beschließe, das unmögliche zu wagen.
„Haben Sie sich eigentlich schon einmal Gedanken darüber gemacht…“, ich mache eine Pause und hole Luft, „haben Sie vielleicht schon einmal daran gedacht, in ein Heim zu gehen?“
Herr Wanzengruber wirft mir einen Blick zu, der töten könnte.
War nur so’n Gedanke. Nur ’ne kleine Anregung….
„Aus meinem Haus müsst Ihr mich mit den Füßen zuerst raustragen!“ murmelt Herr Wanzengruber.
Ich schüttele den Kopf und begebe mich ins Arztzimmer. Nehme mir einen Kaffee und greife mir die Krankenakte. Darin stehen die Kontaktdaten des nächsten Angehörigen: sein Sohn, der wohnt mehrere hundert Kilometer entfernt.
Ich zögere einen Moment, dann atme ich tief durch und wähle die Telefonnummer.
Nach langem Klingeln geht wer dran.
„Hallo?“
Ich stelle mich artig vor.
„…es geht um Ihren Vater!“
„Um wen?“
„Ihren Vater. Herrn Wanzengruber, Hans…“
Pause.
„Hallo? Sind Sie noch dran?“
„Ich habe keinen Vater!“
„Entschuldigung, ich spreche mit Herrn Wanzengruber, Horst in…“
„Ich habe keinen Vater!“
„Sie sind also nicht der Sohn von…“
„Hören Sie! Zu diesem Mann habe ich seit zwanzig Jahren keinen Kontakt mehr. Und dafür gibt es Gründe. Gründe, die ich Ihnen jetzt nicht erläutern möchte. Jedenfalls lehne ich jede Verantwortung ab. Was auch immer mit dem passiert geht mich nichts mehr an!“
Und damit unterbricht er die Verbindung.

Written by medizynicus

29. November 2010 um 07:56

Veröffentlicht in Alltagswahnsinn

14 Antworten

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  1. Tja, da hat es wohl in der Vergangenheit mächtig gescheppert. Kinder sind „vom Werk aus“ auf Liebe eingestellt – wie heftig muss der Vater es verbockt haben?

    Kartoffel

    29. November 2010 at 09:49

  2. uff das ist hart

    hubi

    29. November 2010 at 09:51

  3. Ob er zum erben wieder kommt?

    Blogolade

    29. November 2010 at 11:06

  4. tja..
    Ein Mensch, der das Alter nicht akzeptiert, weder Selbständigkeit aufgeben mag (verständlich), noch seine gewohnte Umgebung, in der er vermutlich den Großteil seines Lebens verbracht hat (verständlich), sich nicht die Mühe macht, einen individuellen Weg für sich selbst zu finden (Eigenverantwortung? Selbständigkeit? Selbstbestimmtheit? : mir unverständlich: WO bleibt das?).
    Ein Sohn, der Verantwortung abschiebt, was er rein rechtlich gar nicht darf.
    Letztendlich werden andere Menschen Entscheidungen treffen (müssen). (Gibts im Medizinstudium jetzt eigentlich schon Sozialpädagogische Vorlesungen? ;-P

    Eine zynische Geschichte, denn genau das, was der alte Mann auf keinen Fall aufgeben möchte (Selbstbestimmtheit, Unabhängigkeit etc,) genau das verliert er durch sein engstirniges Verhalten. Holldrio.
    Der Sohn muss zahlen und die Allgemeinheit auch. Kennt jemand eine elegante Lösung für alle Beteiligten?

    Muckeltiger

    29. November 2010 at 11:45

  5. @Muckeltiger

    „Ein Sohn, der Verantwortung abschiebt, was er rein rechtlich gar nicht darf.“

    Außer einer Unterhaltsverpflichtung, die aus Gründen des Selbsbehalts und erheblicher zusätzlicher Abzüge bei einem Großteil der Bevölkerung nicht greifen dürfte, hat er rein rechtlich keine weiteren Pflichten. Je nachdem, was vorgefallen ist, kann auch der Unterhaltsanspruch verwirkt sein. Er muss sich auch nicht um eine evtl. Unterbingung kümmern.

    Das ist wohlgemerkt die rechtliche Situation. Wie weit das mit den moralischen Ansichten in Einklang zu bringen ist, muss jeder selbst entscheiden.

    drkall

    29. November 2010 at 14:33

  6. Verantwortung abschieben… Na, ich weiß nicht. Wer weiß, ob der Vater je für ihn Verantwortung gezeigt hat…
    Sich bewusst gegen einen Erzeuger zu entscheiden, hat noch lange nichts mit Verantwortung abschieben zu tun… Wer weiß schon, was sich davor getan hat… Vielleicht nur mit Loyalität sich selbst gegenüber?

    Aber ja, gerade, wenn man weiß, dass man nicht mehr für sich selbst sorgen kann, sollte man sich um alles Weitere kümmern – solange man noch kann…

    Chaoskatze

    29. November 2010 at 15:09

  7. es ist auch sicherlich nicht einfach für den Sohn,
    aber der wird sicherlich nicht mit der Situation umgehen können…
    Ich geh mal davon aus, dass er sich davon distanziert, weil er damit überfordert ist, bzw er sich selbst damit Schaden würde..
    Abstand als Eigenschutz

    so hart es auch ist…

    derretter

    29. November 2010 at 16:57

  8. Heftige Situation.

    Mein Sohn wird irgendwann etwaigen Anrufern hinsichtlich des (Miß-)Befindens seines Erzeugers vermutlich ähnlich antworten. Auch er hat dafür seine (sehr guten) Gründe.
    In der Tat sind Ereignisse und vermutlich große seelische Verletzungen aus der Vergangenheit Dreh- und Angelpunkt, wenn „Kinder“ (im obigen Fall ist der alte Herr 85 – somit könnte der Sohn also locker 50 bis 60 Jahre alt sein) jegliche Verantwortung und/oder Betreuung strikt ablehnen.

    Es müssen nicht unbedingt durch sämtliche Medien verbreitete Mißhandlungen, Übergriffe, Mißbrauchsdelikte sein, die zu solchem Verhalten führen. In Familien spielen sich zu oft seelische Grausamkeiten ab, von denen die Öffentlichkeit nie erfährt.

    Was auch immer im geschilderten Fall Anlaß und Ursache gewesen sein mag – ich habe Verständnis für die Ablehnung des Angehörigen. Und kann sie respektieren.

    @blogolade
    Nein – ich denke nicht, daß der Sohn später auftauchen wird, um seine „Erbschaft“ zu sichern.

    Sanna

    29. November 2010 at 17:21

  9. Sanna: vermutlich hast du Recht. Aber solche Fälle gibts auch. Das Leben schreibt die seltsamsten Geschichten.

    Ich kenne auch Menschen, deren Vater sich auf nimmerwiedersehen aus dem Staub machte und der selbst jede Verantwortung (und Pflicht) verweigerte. Da muss man sich nicht wundern, wenn die Kinder den Spieß im Alter umdrehen und genauso mit ihm nichts zu tun haben wollen.

    Blogolade

    29. November 2010 at 17:31

  10. ich bin mal so frei und füge dich zu meiner blogroll hinzu. danke für die immer wieder interessanten beiträge!

    mia

    29. November 2010 at 21:03

  11. @dr.kall: ja wirklich? Eine Unterhaltsverpflichtung kann verwirken? (mal abgesehen vom Selbstbehalt undallsowas).
    Da muss ich mal genauer nachfragen, irgendwo 😉

    Ansonsten: nein, ich finde nicht. Sobald man die persönliche Verantwortung auf andere abwälzt, muss jemand drunter leiden.
    Also was ich sagen will ist, dass man gesellschaftliche Verantwortung trägt, man geht nicht krank zur Arbeit, man trägt Kondome oder lässt sich und seine Lieben impfen etc.
    Genauso finde ich, kann man einen Mensch an sich ablehnen (der Sohn hier im Beispiel hat wohl seine nachvollziehbaren Gründe dafür), aber man kann und muss trotzdem für diese Person Verantwortung tragen. Einfach sich entziehen und zu sagen „geht mich nix an“ is bissi einfach. Oder. Oder??
    ..

    Ich fürchte ja, ich kann nicht wirklich meinen Kopfinhalt jetzt hier auf die Scheibe kriegen – liegt wohl an der Weinlieferung heute.
    Jedenfalls: ich bin dagegen und: denken Sie sich den Rest
    🙂

    Muckeltiger

    29. November 2010 at 22:47

  12. Hier steuert wohl jeder seinen eigenen Hintergrund bei.
    Meiner läßt mich die Sache ähnlich wie Sanna sehen.
    Wissen können wir alle miteinander nicht, ob der Sohn moralisch im Recht ist oder nicht. Abgesehen davon, daß das von der persönlichen Moral auch noch abhängt.

    Gibt es nur den einen Sohn?

    zu Muckeltiger: Diese Perspektive gibt es durchaus auch noch, das ist schon richtig. Die hat der Gesetzgeber aber berücksichtigt und abgesteckt.

    Morgaine

    30. November 2010 at 22:09

  13. Sachma… die Story hatten wir doch schonmal?

    Benedicta

    1. Dezember 2010 at 23:51

  14. @benedicta: wir hatten den ersten und den zweiten Teil der Story: Herr W. wurde aufgenommen und will unbedingt heim, obowhl er sich nicht allein versorgen kann. Außerdem gibts eine Haushaltshilfe, die sich rührend um ihn kümmert und zum Dank dafür von ihm erniedrigt und beleidigt wird. Und ich hatte schon erwähnt, dass es einen Sohn gibt, der weit weg lebt.

    medizynicus

    2. Dezember 2010 at 07:29


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